Geschichte

Liebe Gäste,

diese Mauern, in denen Sie sich hoffentlich zusammen wohl fühlen werden, haben Handwerker vor 600 Jahren gebaut. Das heutige Mauritiushaus geht auf das Baujahr 1421 zurück. Damals wussten die Dörfler von Niederndodeleben noch nichts von Amerika oder Australien. Sie hatten noch nie eine Giraffe gesehen, eine Kartoffel gegessen oder eine Tasse Kaffee getrunken. Eine Evangelische Kirche – für uns nicht ganz unwichtig – gab es auch noch nicht.

Unser Haus war vom ersten Tag an kein Privathaus, dessen Bewohner die Tür nach Belieben hinter sich zumachen konnten. Es war das Pfarrhaus, ein Haus, das für die Menschen früherer Jahrhunderte große Bedeutung hatte. Pfarrhaus ist es geblieben bis ins frühe 20. Jahrhundert. Weil evangelische Pfarrersfamilien familienbedingt einen größeren Platzbedarf haben, als ihre im Zölibat lebenden katholischen Brüder, hat Pfarrer Benjamin Blümeler Anno 1695 für einen Anbau gesorgt: Platz für Mann und Frau, Kinder und Gesinde – heute Platz für unsere Gäste!

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts haben dann viele Familien und Einzelne in diesem Haus gewohnt; nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1975 vor allem Flüchtlinge. Noch heute stehen manchmal grauhaarige Passantinnen vor dem Haus und bemerken eifrig oder auch ein wenig melancholisch: „Hier haben wir mal gewohnt, im alten Pfarrhaus“.

Seit 1975 stand das Haus leer und war dem rapiden Verfall preisgegeben. So trafen es Regina und Dr. Matthias Sens an, als sie 1981 als Pfarrerin und Pfarrer nach Niederndodeleben kamen. Pfarrer brauchen von jeher eine Prise Manager-Gene. Was also tun mit der ehrwürdigen Beinahe-Ruine? Regina Sens 30 Jahre danach: „Zum Abriss hat uns das Geld gefehlt.“ Gott-sei-Dank, möchte man hinzufügen. So war der Boden bereit für das erste der vier kleinen Alltagswunder, denen das „Mauritiushaus“ heute sein Leben verdankt.

Wunder Nummer Eins: 1981 sagte der Ökumene-Dezernent der „Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen“ (inzwischen aufgegangen in der „Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland – EKM“): „Hier richten wir eine Ökumenische Werkstatt ein“. Die Kirchenleitung zog mit. 1983 begannen die Bauarbeiten, 1985 wurde der förmliche Beschluss über die Gründung der Ökumenischen Werkstatt Niederndodeleben gefasst. 1981 konnte niemand an ein Ende der DDR denken. Im Gegenteil, sie war auf dem Höhepunkt ihrer politischen Anerkennung. Zu dieser Zeit einen Impuls westdeutscher Partnerkirchen aufzugreifen und eine „Ökumenische Werkstatt“ zu planen, war mehr als keck. Dienen solche Werkstätten doch dazu, Menschen unter dem Dach einer Kirche vor allem mit den weltweiten Gerechtigkeits- und Friedensfragen vertraut zu machen und ihnen gleichzeitig Mut zum Engagement einzuflößen.

Der Ausbau des baufälligen Pfarrhauses war ein fast sechsjähriges Abenteuer (1983-1988). Das Ganze unter den mehr als misstrauischen Blicken des Regimes und den skurrilen Bedingungen der DDR-Planwirtschaft. Weil die Totalsanierung eines baufälligen Pfarrhauses natürlich in keinem staatlichen Plan Aufnahme fand, ergab sich eine langjährige Wochenend-Baustelle. Immer mit Fachleuten der einzelnen Gewerke und weiteren Arbeitern, oft auch ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. So um die fünfzehn Leute sind sie oft gewesen, an vielleicht zweihundert Wochenenden.

Wunder Nummer Zwei: Kurz nach Sanierungsbeginn wäre beinahe schon Schluss gewesen. Als die Zimmerleute den historischen Dachstuhl in Augenschein nahmen, hoben sie die Rote Karte: nicht zu restaurieren! Eine riesige Finanzierungslücke tat sich auf. Wieder stand das Gespenst „Abriss“ im Raum.

Viel Wagemut und eine kleine kirchliche West-Ost-Nachbarschaftshilfe (wie auch schon zu Beginn der Arbeiten) machten den Weiterbau möglich. Das Bauholz konnte mit West-Devisen in der DDR beschafft werden. Beim Zement hieß es allerdings einfach Schlange stehen, immer mittwochs, wenn die Bäuerliche Handelsgenossenschaft Niederndodeleben welchen hatte.

Im Sommer 1988, als noch niemand wissen konnte, was im November des nächsten Jahres geschehen würde, ging es dann los. Pfarrer Markus Meckel wurde zum ersten Leiter des „Mauritiushauses“, wie es nun heißen sollte, berufen. Seine Amtszeit geriet ein wenig kurz, weil er bald zu den herausragenden Personen der Wendezeit gehörte und dann letzter Außenminister der DDR wurde.

Mehrere Frauen und Männer sind ihm seitdem gefolgt als Verantwortliche für die ökumenische Bildungsarbeit im Mauritiushaus. Trotzdem hat es eines dritten kleinen Wunders bedurft, damit Sie heute hier zu Gast sein können.

Als die „Kirchenprovinz Sachsen“ im Jahr 2001 aus Finanznot die direkte Trägerschaft des Mauritiushauses aufgeben musste, war die Zukunft wieder mehr als ungewiss. Schließung lag nahe. Ein nicht sehr großer Kreis von Einzelpersonen und Gliederungen der Kirche tat sich stattdessen zusammen im Trägerverein „Mauritiushaus Niederndodeleben e.V.“ Andere Stellen der Kirche halfen und helfen, z.B. zeitlich befristet bei den Personalkosten.

Ehrenamtliche Mitarbeit in den Gremien des Mauritiushauses, bei der Programmgestaltung und bei der standortgerechten Grundstücksgestaltung ist Teil des Konzeptes.

Das vierte kleine Wunder betrifft das Gebäude mit dem großen Tagungsraum. Das war bis zum Jahr 2000 ein ziemlich heruntergekommener Stall, mit eingebauter Garage, sonst weitgehend ungenutzt. Vier verschiedene Fördertöpfe aus der Kirche und dem Land Sachsen-Anhalt konnten aufgetan werden, um den Ausbau zu finanzieren.

2015 kam dann das fünfte kleine Wunder dazu. Aus der Ruine einer alten Scheune wurde unsere Kreativscheune mit einem neuen Tagungsraum und drei modernen Doppelzimmern.

Ein bequemes Ruhekissen ist das alles nicht. Eher nach wie vor ein kleines Wagnis. Also dann, lieber Gast, herzlichlich willkommen im wunderbaren Mauritiushaus!

Das Mauritiushaus-Team